* 18 *

18. Die Camera obscura

 

Simon

»Willkommen im Observatorium, meinem Zuhause«, sagte Simon und gestattete sich, für einen Augenblick in die Rolle des großen Bruders zu schlüpfen, der sich vor der Schwester aufspielte. »Komm rein und sieh dich um.«

Jenna schritt durch den Bogengang, und eine schreckliche Angst befiel sie. Sie spähte in das Halbdunkel. Hier war es kalt und unheimlich. Sie spürte, dass Schwarze Magie in der Luft lag. Obwohl die Glühraupen sich alle Mühe gaben, konnte Jenna wenig mehr als eine große weiße Scheibe erkennen, die wie der Mond leuchtete und über dem Fußboden zu schweben schien. Simon stieß sie in Richtung der Scheibe, aber sie sträubte sich.

»Nun mach schon«, sagte er, schob sie vorwärts und brachte sie für einen Moment ganz durcheinander, indem er wie früher zu ihr sprach. »Das wird dir gefallen. Das gefällt allen Kindern.«

»Ich bin kein Kind mehr!«, sagte Jenna. »Ich bin ...«

»Ja, ja, ich weiß. Du bist die Prinzessin vom hohen Ross. Es wird dir trotzdem gefallen. Einerlei, was du bist. Ich nehme jetzt den Deckel von der Linse, dann wirst du sie sehen, meine Camera obscura.«

Ein Schauder ergriff Jenna. Wo hatte sie dieses Wort schon einmal gehört? Hatte nicht DomDaniels Lehrling, dieser unausstehliche Junge, damit geprahlt, dass er eine Camera obscura besitze? Ein seltsames Geräusch ertönte weit über ihr. Sie blickte nach oben und konnte undeutlich eine hohe gewölbte Decke ausmachen und einen langen Holzbalken, der in der Mitte herabhing. Was war das?

»Hör auf zu träumen«, herrschte Simon sie an, »und schau auf die Schüssel.«

Jenna blickte auf die große weiße Scheibe vor ihr, und zu ihrem Erstaunen erschien dort ein gestochen scharfes Bild der Schlucht, durch die sie vorhin geritten waren.

»Gut, was?«, feixte Simon. »Besser als der ganze Hexenkram der alten Zelda. Das da, Schwesterchen, ist die wirkliche Welt.«

Jenna wusste, dass er auf jene Nacht anspielte, in der die Heaps auf einer wackligen Brücke gestanden und im Vollmondlicht ihr Spiegelbild betrachtet hatten, während Tante Zelda, eine Weiße Hexe, den Mond bat, ihnen die Familie von Junge 412, Soldat der Jungarmee, zu zeigen. Jenna hielt es für klüger, nichts zu sagen.

Simon ergriff den Holzbalken und begann, langsam um die weiße Schüssel herumzugehen. Der Balken bewegte sich mit, und weit über ihnen ertönte ein leises Quietschen. Die Linse, die das Bild auf die weiße Schüssel der Camera obscura warf, drehte sich, und während sie sich drehte, veränderte sich die Szene vor ihnen. Jenna war gegen ihren Willen fasziniert. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Das Bild war klar, mit einer verwirrenden Fülle von Einzelheiten, aber auch seltsam stumm.

»Wie du siehst«, sagte Simon, der sehr langsam ging, damit Jenna die sich verändernde Szene erfassen konnte, »kann man mir nichts verheimlichen. Ich kann alles sehen. Ich kann die Burg sehen, ich kann deinen heißgeliebten Palast sehen, und ich kann sogar die verrückte Marcia im Zaubererturm sehen, mit diesem Emporkömmling von Lehrling, der sich für meinen Bruder hält. Ich sehe alles.«

Jenna betrachtete das Bild. Es war schön, aber alles war sehr klein und weit weg. Sie begriff nicht, wie Simon alles sehen konnte.

In der Ferne, jenseits der Ödlande und der Ackerlande, sah sie die Burg, die sich gegen die untergehende Sonne abhob. Möwen flogen lautlos am Himmel, Boote glitten langsam den Fluss hinauf. Den Palast erkannte sie nur mit Mühe an den großen Rasenflächen, die sich bis zum Fluss hinzogen. Bei dem Anblick bekam sie schreckliches Heimweh.

»Sollen wir näher rangehen?«, fragte Simon mit einem spöttischen Grinsen. »Willst du sehen, wie sehr sie dich vermissen?«

Jenna antwortete nicht, dennoch öffnete er eine Schublade im Untergestell der Schüssel und zog ein großes Vergrößerungsglas aus Messing hervor. Er hielt es über die Schüssel, schnalzte mit den Fingern und murmelte: »Gewahren wir was, größer alles mach ...«

Schlagartig wurde alles auf der weißen Schüssel viel größer.

»So«, sagte Simon, »jetzt sehe ich alles ganz deutlich. Ich habe das Vergrößerungsglas vom Obermagieschreiber im Manuskriptorium. Er sammelt Umkehr-Souvenirs. Er glaubt, dass es einst dem ersten Schwarzkünstler gehört hat. Und weißt du, wer das war, Schwesterchen? Hat man dir das in deinem königlichen Geschichtsunterricht noch nicht beigebracht?«

Jenna schwieg. Neuerdings konnte sie es nicht leiden, wenn von der dunklen Seite gesprochen wurde. Eine Abneigung, die sie von Septimus übernommen hatte. Seiner Ansicht nach konnte man die dunklen Kräfte der anderen Seite allein dadurch heraufbeschwören, dass man über sie sprach.

»Nun, ich sage es dir trotzdem«, fuhr Simon fort. »Es war kein anderer als Hotep-Ra. Der allererste Außergewöhnliche Zauberer. Der Mann, der dein geliebtes Drachenboot hierher gebracht hat. Guck nicht so überrascht. Jetzt wirst du wohl einsehen, dass wir, die dunkle Seite, die wahren Erben der Burg sind. Und bilde dir bloß nicht ein, dass du dein geliebtes Drachenboot jemals wiedersehen wirst. Das wirst du nämlich nicht.«

Simon kicherte vor Freude über die Wirkung seiner Worte auf Jenna. Sie war kreidebleich geworden. Sie wich seinen Blicken aus und schaute stur auf die Schüssel.

Simon folgte ihrem Blick und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Camera obscura zu. Dann, als hätte er einen Schalter umgelegt, schlüpfte er plötzlich wieder in die Rolle des großen Bruders.

»Gut, nicht wahr?«, sagte er, schwenkte das Vergrößerungsglas über der Schüssel, wählte einzelne Orte aus und holte sie näher heran. »Hier hätten wir zum Beispiel den Wald ... oh, da oben an dem Strand, wo Sam immer angelt, ist ein Boot festgemacht. Sam ist anscheinend nicht da ... Sonst ist im Wald nicht viel zu sehen. Zu dicht. Nur nachts sind manchmal Wolverinenaugen zu erkennen ... Aber jetzt flussaufwärts zur Burg ... Da, die Werft der alten Jannit ... Wo steckt denn mein kleiner Bruder Nicko? Er ist nämlich gestern mit Rupert zurückgekommen. Hast du das gewusst, Jenna? Nein, wohl eher nicht. Ich dagegen schon. Ich sah sie den Fluss heraufkommen, bevor ich mich auf den Weg machte. Und ... ah ja, das ist das Nordtor. Dieser Trottel von Gringe hat sich mit seinem dussligen Sohn in der Wolle ... Aber wo steckt meine Lucy? Da ist sie ja. Sitzt am Burggraben und wartet. Sie wird noch ein Weilchen auf mich warten müssen. Und hier hätten wir den Zaubererturm. Wirf mal einen Blick durch das Fenster dort. Marcia in ihrem Studierzimmer. Der Schatten leistet ihr Gesellschaft, wie es sich für einen braven Schatten gehört. Siehst du, wie er jede Bewegung von ihr beobachtet? Jetzt lass uns einen Ort besuchen, den du gut kennst, einverstanden? Und da ist er auch schon ... der Palast. Trautes Heim, Glück allein, was? Wenn ich mich nicht irre, sind das meine armen irregeleiteten Eltern dort auf dem Dach. Was meinst du? Genießen sie den Sonnenuntergang oder fragen sie sich, ob ihr Sohn und Erbe ihren kleinen Kuckuck zurückbringen wird?«

»Sei still, Simon!«, schrie Jenna. »Ich hasse dich, ich hasse dich!«

Sie riss sich vom Anblick ihrer Adoptiveltern los und rannte zur Treppe. Doch Simon war schneller. Im Nu hatte er sie eingeholt und wieder eingefangen. Aber zuvor hatte Jenna im Schatten etwas bemerkt, was sie lieber nicht bemerkt hätte – einen verblichenen weißen Totenkopf, der sie vom Sitz eines reichverzierten Holzthrons aus angrinste.

»Ich glaube, ihr kennt euch bereits«, lächelte Simon. »Darf ich vorstellen: der Kopf meines Meisters DomDaniel.«

Septimus Heap 02 - Flyte
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